Der SPD-Vorsitzende Kurt Beck reiht sich in die Kritiker der Lokführergewerkschaft GDL ein. Wie schon einige vor ihm sieht er in der Forderung der GDL nach einem eigenständigen Tarifvertrag eine Gefahr für die Tarifeinheit, die weit über die Deutsche Bahn AG hinaus reicht. Ein Erfolg würde zur Bildung weiterer Splittergewerkschaften und zur Zersplitterung des Tarifgefüges insgesamt führen.Wie realistisch ist dieses Szenario? Bisher waren nach meinem Kenntnisstand bei der Bildung eines Spartentarifvertrages mindestens die folgenden Bedingungen erfüllt:

  • ein großer innerer Zusammenhalt innerhalb der Berufsgruppe bzw. eine besonders hohe Identifikation mit dem eigenen Beruf
  • eine bereits vorhandene Interessenvertretung der Arbeitnehmer nur dieser Berufsgruppe
  • eine über längere Zeit andauernde Benachteiligung dieser Berufsgruppe durch den oder die Arbeitgeber
  • eine „eigentlich zuständige“ Gewerkschaft, die sich nicht oder nicht ausreichend gegen diese Benachteiligung gewehrt hat, die Interessen speziell dieser Berufsgruppe also nicht oder nicht ausreichend vertreten hat

Jetzt mal ehrlich: Für wie viel Berufsgruppen treffen diese Bedingungen in Deutschland noch zu oder werden in absehbarer Zeit zutreffen? Kurt Beck spricht ja gerade von einer Entwicklung, die sich „sehr zögerlich abzeichnet“. Und das mit dem Zögerlichen wird auch auf lange Sicht so bleiben.Zwei Beispiele mögen das verdeutlichen: Zum einen seien die Briefzusteller genannt, die bekanntlich bei einigen Betrieben zu Bedingungen arbeiten müssen, die an der Grenze des Sittenwidrigen liegen. Hier könnte sich ein Berufsstand leicht zu einer Interessengemeinschaft zusammenschließen. Müsste er aber nicht mal, denn die Dienstleistungsgewerkschaft ver.di wartet sehnsüchtig darauf, endlich die Interessen der Briefzusteller wahrnehmen zu dürfen. Leider sind diese nur zu einem geringen Anteil Gewerkschaftsmitglieder. Sollte es doch noch zum berechtigten „Aufstand“ der Briefzusteller kommen, würden sie in ver.di bestimmt große Unterstützung finden. Spartengewerkschaft? Wozu?Das zweite Beispiel erlebe ich in eigener Erfahrung. Dass wir Ingenieure gerne über das Management schimpfen, ist eine bekannte Tatsache. Meiner Meinung nach haben wir häufig auch allen Grund dazu. Ärgerlich ist dabei vor allem, dass im Management die großen Karrieren und das große Geld gemacht wird, während man im Ingenieurbereich selbst bei besten Leistungen häufig im tariflichen Bereich hängen bleibt. Unzufriedenheit ist durchaus reichlich vorhanden. Und eine Gewerkschaft der Ingenieure hätte eine nicht geringe Macht. Trotzdem scheitert der schöne Traum am inneren Schweinehund. Man müsste die Ingenieure schon zur Revolution tragen. Spartengewerkschaft? Viel zu anstrengend!Wo ist also das Potenzial für die große Zersplitterung? Wo sind die vielen Berufs- und Interessengruppen, die nur auf einen Erfolg der GDL warten, um dann selbst ihre Forderungen aufzustellen? Was wir sehen, sind meiner Meinung nach hausgemachte Probleme innerhalb einiger weniger Branchen, die zufällig eine stark organisierte Berufsgruppe betreffen. Mehr ist das nicht. Und mehr wird es auch nicht werden.

Cargo-Kult-Exegese

15. November 2007

Nein, dies ist nicht der Versuch, möglichst viele Fremdwörter in eine Überschrift zu packen.

Es geht vielmehr um ein gewisses Unbehagen, das mich zuweilen beschleicht, wenn über biblische Lehre diskutiert und um biblische Wahrheit gerungen wird, und zwar insbesondere dann, wenn dabei Bibelstellen zitiert werden.

Nun bin eigentlich der Meinung, dass sich jede christliche Lehre doch gefälligst an der Bibel zu orientieren habe. Dennoch finde ich mich bei Diskussionen meist auf der Seite derer wieder, die keine Bibelstellen zur Untermauerung ihrer Meinung zu zitieren wissen. Das mag zum Teil an der allgemeinen Verstockung des menschlichen Herzens gegen göttliche Wahrheiten liegen. Aber was da mit Hilfe von Bibelstellen vertreten wird, ist leider nicht immer göttliche Wahrheit. Kann es denn sein, dass jemand seine Meinung mit Bibelstellen begründet und trotzdem falsch liegt?

O ja, es kann!

Das fängt schon damit an, dass die Bibel einfach ein ziemlich dickes Buch ist. Verschiedene christliche Sekten beweisen täglich, dass man durch geschicktes betonen und weglassen von verschiedenen Bibelstellen selbst den größten Unsinn biblisch belegen kann. Und der „Bibelcode“ zeigt, welche Tricks man mit der Bibel aufgrund ihres Umfangs machen kann.

Dazu kommt, dass die Bibel keinesfalls immer leicht zu verstehen ist. Was Petrus in 2. Petrus 3, 15.16 über Paulus schreibt, kann jeder nachvollziehen, der sich schon mal ernsthaft mit z. B. dem Römerbrief beschäftigt hat. Und manche Abschnitte der Bibel sind — wie Jesus selbst in Matthäus 13, 13 ausführt — bewusst und mit voller Absicht nicht für jeden verständlich.

Trotz dieser Schwierigkeiten haben sich über Jahrhunderte viele Theologen und Laien intensiv mit der Bibel beschäftigt und dabei viele wichtige und nützliche biblische Wahrheiten entdeckt. Und gerade wegen dieser Schwierigkeiten haben die besten unter ihnen dies mit sehr großer Sorgfalt, beeindruckendem Wissen über die Bibel als Ganzes und die Zeit ihrer Entstehung und nicht zuletzt unter Beachtung allgemein anerkannter Regeln der Bibelauslegung gemacht. Die Ergebnisse dieser Vorgehensweise sind häufig so „zwingend biblisch“, dass man gar nicht anders kann, als zuzustimmen.

Diesen Vorbildern der Exegese muss man nacheifern. Das Ergebnis ist aber nicht billig zu haben. Ohne Sorgfalt, Fachkenntnis und Augenmaß wird aus der biblischen Exegese ein bloßer Schein. Und wer das Zitieren vermeintlich einschlägiger Bibelstellen mit biblischer Lehre verwechselt, betreibt im Grunde Cargo Kult:

Während des zweiten Weltkriegs baute die amerikanische Armee Stationen auf einigen abgelegenen Inseln im Südpazifik auf. Für die Bewohner war es der erste Kontakt mit der westlichen Zivilisation, und die Waren, die von den amerikanischen Flugzeugen gebracht wurden, waren für sie unermessliche Reichtümer, die nur von den Ahnen stammen konnten. Als die Amerikaner nach dem Krieg wieder abzogen und ihre Reichtümer mitnahmen, versuchten die Ureinwohner diese „Flugzeuge der Ahnen“ selbst herbeizurufen. Sie schnitzten sich Kopfhörer aus Holz und setzten sich in selbst gebaute „Tower“ neben selbstgebauten „Landebahnen“ samt Leuchtfeuer. Zu ihrem großen Erstaunen blieben die Flugzeuge trotzdem aus.

Das Verhalten der Inselbewohner mag uns lächerlich erscheinen, ist aber in anderem Zusammenhang auch bei uns weit verbreitet. Der amerikanische Physiker Richard Feynman verwendete Cargo Kult zuerst als Metapher und wies damit auf Missstände im Wissenschaftsbetrieb hin.

Aber auch auf den Umgang mit der Bibel lässt sich der Begriff gut anwenden. Statt uns mit der harten Arbeit der biblischen Exegese zu beschäftigen, bleiben wir bei unseren vorgefassten Meinungen (wie die Inselbewohner beim Ahnenkult) und versuchen, durch selbst zurechtgeschnitzte Bibelzitate, die wir wie Artefakte (oder gar Fetische) vor uns hertragen, die „große biblische Überzeugungskraft“ für uns herbeizurufen. Ich nehme mich da selbst nicht aus. Zu leicht fällt man in diese Falle.

Beispiel gefällig? Gelegentlich hört man die Meinung, dass Phänomene wie Sprachengebet oder Prophetie nur auf die Urgemeinde beschränkt waren und nach Verfügbarkeit des vollständigen biblischen Kanons verschwanden, weil angeblich keine Notwendigkeit mehr dafür bestand. Als biblische Begründung dafür muss der erste Korinterbrief, Kapitel 13, die Verse 8 bis 10 herhalten. Ich habe Christen erlebt, die diese These mit großer Überzeugung (und gelegentlich einem fanatischen Feuer in den Augen) aufgrund dieser Bibelstelle als biblische Wahrheit verkündet haben. Bei genauerer Analyse zerkrümelt einem die angebliche biblische Wahrheit zwischen den Fingern:

  1. Die These wird vom Neuen Testament als Ganzes nicht gestützt. (Es sei denn, man unterstellt Paulus an anderer Stelle bitterste Ironie!) Auf einer einzelnen Bibelstelle kann man keine Lehre aufbauen.
  2. Es handelt sich nicht um die einzige mögliche Interpretation. Mit dem Zeitpunkt, bei dem Prophetie und Zungenrede verschwinden, kann auch die Wiederkunft Jesu gemeint sein.
  3. Der Zeitgeschichtliche Zusammenhang spricht gegen die These: Paulus lebte nicht in einer Erwartung eines wie auch immer gearteten biblischen Kanons, er lebte vielmehr in der baldigen Erwartung der Wiederkunft Jesu. Wenn er also von einem einschneidenden Ereignis in (vielleicht naher) Zukunft schreibt, kann er nur die Wiederkunft Jesu gemeint haben.
  4. Selbst der unmittelbare Textzusammenhang (Vers 12) spricht eindeutig gegen die These: Bisher hat noch kein Mensch Gott von Angesicht zu Angesicht gesehen, und dass ich Gott durch die Bibel genauso erkennen kann, wie er mich kennt, das wird doch wohl kein Christ ernsthaft behaupten wollen.

Von der angeblichen biblischen Lehre bleibt nur noch ein wenig Cargo Kult übrig, getrieben vielleicht vom Ahnenkult der Berliner Erklärung.Wir werden um sorgfältiges Prüfen nicht herum kommen. Paulus wünscht, dass „wir nicht mehr unmündig seien und uns von jedem Wind einer Lehre bewegen und umhertreiben lassen durch trügerisches Spiel der Menschen, mit dem sie uns arglistig verführen.“ Und auch nicht, dass wir uns umhertreiben lassen von Menschen, die mit bester Absicht und angeblichen biblischen Belegen einfach nur Unsinn erzählen.