Dank Edward Snowden wissen wir mal wieder ein gutes Stück mehr, wie sehr wir mittlerweile von Sicherheitsbehörden aller Art überwacht werden. Es ist noch nicht vollständig klar, wie umfangreich die Maßnahmen und wie beteiligt die angegebenen Internet-Konzerne tatsächlich sind. Offensichtlich ist jedoch, dass PRISM ein schlagkräftiges Machtinstrument für eine Diktatur wäre. Denn ein wichtiges Kennzeichen von totalitären Staaten ist gerade, dass staatliches Handeln stets im Geheimen geschieht, der Staat sich aber möglichst unmittelbaren Zugriff auf die Informationen aller Bürger verschafft. In der Demokratie ist staatliches Handeln stets öffentlich, so lange im konkreten Fall keine gewichtigen Gründe dagegen sprechen. Tun und Lassen des Bürgers hingegen gehen den Staat nur etwas an, so weit es dafür eine konkrete, hinreichende Notwendigkeit gibt.

Die Kritik aus Deutschland an PRISM reicht quer durch das politische Spektrum. Interessanterweise beteiligen sich dabei auch die politischen Kräfte, die seit längerem für die Wiedereinführung der anlasslosen Vorratsdatenspeicherung kämpfen. Von geradezu erfrischender Ehrlichkeit sind dabei die Äußerungen des Chefs der Deutschen Polizeigewerkschaft Rainer Wendt, die Sascha Lobo dankenswerterweise völlig richtig einordnet.

Aber wie kommt es, dass gerade die Ämter, die den Bestand unserer freiheitlich-demokratischen Ordnung sicherstellen sollen, immer wieder Strukturen hervorbringen, die zum Aufbau einer Diktatur geeignet sind? Das liegt in erster Linie an der Natur der Grundrechte selbst, die der demokratische Staat, hier wie in den USA, seinen Bürgern garantiert.

Diese sind nämlich gerade kein Auftrag des Staates zu Schutz und Hege seiner Bürger. Vielmehr handelt es sich um Verteidigungsrechte des Bürgers gegen den Staat. Die Staatsmacht darf eben nicht alles (vermeintlich) Notwendige zur Erfüllung ihrer Aufgaben tun, sondern nur das, was ihr von Gesetz wegen explizit erlaubt ist. Und die Grundrechte stellen absolute Grenzen staatlichen Handelns dar, die auch mithilfe von Gesetzen nicht überwunden werden können.

Das gilt auch und besonders für die Teile des Staatsapparats, die für die Aufrechterhaltung der freiheitlich-demokratischen Staatsordnung zuständig sind: Die Sicherheitsbehörden werden genau durch die Grundrechte, die sie verteidigen sollen, in ihrer Handlungsfähigkeit eingeschränkt. Das ist kein Fehler, der behoben werden muss, das ist vielmehr ein unverzichtbares Grundprinzip der freiheitlich-demokratischen Ordnung.

Es ist verständlich, dass Menschen, die Verantwortung tragen, die Grenzen ihrer Handlungsfähigkeit erweitern wollen. Und es ist nicht verwerflich, insbesondere wenn es um die Sicherheit der Bevölkerung geht. Es ist jedoch nicht akzeptabel, wenn dabei die Beschädigung oder gar Zerstörung des eigentlichen Schutzziels als Kollateralschaden in Kauf genommen wird, wenn zum Schutz der Grundrechte dieselben ausgehöhlt und verwässert werden. Leider zeigen fast alle Sicherheitsbehörden dieser Welt diese Tendenz. PRISM ist nur ein besonders gravierendes Beispiel dafür, die Äußerungen von Rainer Wendt ein weiteres.

Von den Organen eines freiheitlich-demokratischen Staates erwarte ich besonderen Respekt vor den Rechten seiner Bürger und bewusste Selbstbescheidung angesichts dieser Rechte. Leider, so fürchte ich, ist diese Erwartung wenig realistisch, denn Behördenleiter und hochrangige Politiker sind – wie man so schön sagt – auch nur Menschen, sogar Menschen mit überdurchschnittlichem Wunsch nach Macht, sonst hätten sie nie die Ämter erstrebt, die sie innehaben.

Das entscheidende Element für die langfristige Bewahrung der Grundrechte ist deshalb nicht der Staatsapparat, auch wenn er durch eine funktionierende Gewaltenteilung auf vielen Ebenen viel dazu beitragen kann. Entscheidend ist vielmehr, dass die Zivilgesellschaft diese Rechte immer und immer wieder einfordert. Das schließt auch ein gesundes Misstrauen gegenüber der Staatsmacht mit ein. Man könnte sagen, der Bürger eines freiheitlich-demokratischen Staates sei geradezu von Staats wegen dazu verpflichtet, den Organen dieses Staates zu misstrauen.

Um diese Verpflichtung zu erfüllen, ist neben viel Engagement auch nötig, dass man sich über die Handlungen der Staatsorgane umfassend informieren kann. Geheimhaltung ist deshalb gleich in zweifacher Hinsicht undemokratisch: Der Staat setzt sich dabei nicht nur über die Rechte seiner Bürger hinweg, er nimmt ihnen zugleich auch die Mittel, sich gegen diese Übergriffe zu wehren. Das gilt auch für das PRISM-Programm: Der eigentliche Skandal besteht nicht aus den durchgeführten Überwachungsmaßnahmen, auch wenn diese selbst wohl erschreckend genug sind. Der eigentliche Skandal ist die Einstufung des ganzen Programms als streng geheim und damit die Absicht, ein aus Sicht der Grundrechte derart problematisches Programm dauerhaft ohne Wissen der Bürger durchzuführen. Dies ist unabhängig von jeder Gesetzes- und Rechtslage ein direkter Angriff auf die freiheitlich-demokratische Grundordnung.

„Was ich nicht weiß, macht mich nicht heiß“, sagt der Volksmund. Mit der Geheimhaltung leben beide Seiten bequemer: Die Staatsvertreter, die sich nicht zu rechtfertigen brauchen, und die Bürger, die sich nicht beunruhigen müssen. Wenn wir unsere freiheitlich-demokratische Grundordnung wertschätzen, dürfen wir uns diese Bequemlichkeit nicht erlauben.